Sonntag, 4. März 2012

34 Meter über dem Meer - Annika Reich



"Hallo, Horowitz."
"Ella, wie schön, dass Sie anrufen! Geht es Ihnen gut?"
"Nein", sagte Ella, "überhaupt nicht, aber fragen Sie bitte nicht weiter. Geht das?"
"Natürlich geht das", sagte Horowitz.
"Ich muss nämlich Sie etwas fragen."
"Alles, was Sie wollen", sagte Horowitz ernst.
"Ich frag Sie das nur, weil ich nicht weiß, wen ich es sonst fragen soll, und weil Sie ja jetzt in meinem Leben wohnen."
"Fragen Sie, Ella, ich bezweifle, dass gerade ich Ihnen helfen kann, aber..."
"Haben Sie es gefunden?", fragte sie.
"Was?"
"Mein Leben."
"Sagen Sie bloß, Sie haben es hier vergessen?", fragte er mit verschmitzter Stimme. "Ich kann's ja mal suchen, wie sieht es denn aus?"
"Schön, dachte ich immer, schön und bunt, voller Wünsche, eben genauso, wie ich es mir immer vorgestellt habe..., aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher, bin mir überhaupt mit diesem ganzen Wünschen nicht mehr so sicher." (S. 164)


Am liebsten würde ich das ganze Buch zitieren, denn "34 Meter über dem Meer" ist wunderbar.
Ella hat gerade ihr Studium abgeschlossen und steht vor ihrer ersten Anstellung bei einem Radiosender. Zum ersten Mal ist sie wirklich verliebt, in Paul, einen Mann, der ihre Haarwurzeln zum Knistern bringt und genauso umwerfend wie geheimnisvoll ist.
Horowitz, ein alternder Meeresforscher, der noch nie am Meer war und ein wenig einsam in seiner riesigen Wohnung in Charlottenburg seine Tage verbringt, ist das komplette Gegenteil der verträumten Ella.
Und doch verbindet sie eins: Sie wünschen sich ein anderes Leben, möchten einmal raus aus dem eigenen, für eine Zeitlang abtauchen. Horowitz und Ella tauschen ihre Wohnungen, 6 Zimmer in Charlottenburg gegen eine kleine Wohnung in Mitte - und bei diesem Wechsel entdecken sie das Leben das anderen genauso wie ihr eigenes.

Verspielt und witzig, ein wenig melancholisch, ein wenig verquer, sehr lebendig, ein bisschen verträumt, ein bisschen wie ein Tanz und dabei keineswegs anspruchslos - so erzählt Annika Reich ihre feinsinnig konstruierte Geschichte von der verträumten Ella, die manchmal aus ihrem Leben verschwinden will und vom schrulligen Horowitz, dem sein Leben und sein monumentales Meereswerk genauso zu groß geworden zu sein scheinen wie seine riesige Wohnung. Annika Reichs Figuren schleichen sich mit erstaunlicher Intensität und Plastizität in die Vorstellung des Lesers ein und erzählen uns ihre Geschichte, lassen uns mitdenken, mitfühlen, mitleben.

Für mich ist "34 Meter unter dem Meer" ein wirkliches Kleinod der zeitgenössischen Literatur, skurril und intelligent, mit einer poetischen Leichtigkeit geschrieben und gleichzeitig von berührender Tiefe. Es klingt lange nach und wird, nicht zuletzt wegen des wunderbaren Covers, einen dauerhaften Ehrenplatz in meinem Bücherregal einnehmen. Ich wünsche diesem bezaubernden Buch ganz viele Leser!

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